Französische Presse & Qualität

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This is the transcript of an interview by Radio France Internationale’s German service, on the essay Bévues de presse.

 

"Patzer der Presse" in Frankreich

 

Le Monde gilt international als eine der besten Tageszeitungen überhaupt. Aber mit der Qualität vieler anderer Blätter in Frankreich  ist es nicht weit her. Diese Ansicht jedenfalls vertritt der Journalist Jean-Pierre Tailleur in seinem jetzt erschienen Buch Bévues de presse ("Patzer der Presse"). Sybille Korte hat mit dem Autor gesprochen.

 "Die Presse im Dienst des Staatsbürgers soll zwischen Regierenden und Regierten vermitteln, über den Mindestservice aktueller Informationen hinaus. Sie ist ein Parlament aus Papier, mit dem Vorteil, dass es leichter und billiger ist, die Schwachen in den Spalten einer Zeitung zu schützen als in einer Versammlung oder in einem Gerichtssaal." Mit diesem Bekenntnis zur Presse als Anwalt der Schwachen und demokratischer Kontrollinstanz beginnt Jean-Pierre Tailleur das erste Kapitel seines Buch. Und das Verständnis der Presse als vierter Macht im Staat bleibt ein Leitfaden seiner Kritik an den französischen Zunftgenossen. An konkreten Beispielen aus verschiedenen Magazinen und Zeitungen belegt Tailleur seine These, dass viele französische Journalisten ihre beruflichen Pflichten nicht erfüllen.

Jean-Pierre Tailleur: "Ich stelle in der französischen Presse einen Mangel an Reportagekultur fest, einen Mangel an Recherche. Man neigt zu stark dazu zu denken,  ein Journalist sei vor allem ein Denker, jemand der gut schreibt und Standpunkte über alles darlegt. Die Basis des Journalismus bleibt aber immer noch, vor Ort Informationen zu sammeln und Fakten zu berichten. Mein Buch ist also eine Einladung an die französischen Journalisten, Leser und Hörer, die Reportage höher zu bewerten."

Vor allem die regionalen Tageszeitungen in Frankreich erfüllen nicht ihre eigentliche Funktion, stellt Tailleur fest. Er belegt dies unter anderem an einem Beispiel aus der Gruppe Journaux du Midi in der Region Languedoc-Roussillon. Die Tageszeitung Le Midi libre in Montpellier gilt als eines der besten Regionalblätter Frankreichs, gelobt wird beispielsweise von der Zeitschrift Télérama ausdrücklich der kritische Geist gegenüber den örtlichen Behörden. Le Midi libre hat seine Auflage in den vergangenen Jahren halten können, anders als die meisten anderen Tageszeitungen in Frankreich. Er zählt durchschnittlich fast 580.000 Leser. Vom Anspruch her will Le Midi libre lesernah sein und komplexe Informationen verständlich machen.

 Tailleur greift sich eine Ausgabe des Blattes vom März 2000. Die Zeitung berichtet an diesem Tag auf einer ganzen Seite über die angeblich besseren Bedingungen für kleine und mittelständische Unternehmen im nahegelegenen Spanien. Tailleur deckt zahlreiche journalistische Fehler und Schludrigkeiten in diesem Artikel auf. Dazu gehören Ungenauigkeiten und politische Voreingenommenheit. Dabei sei der Midi libre wirklich bei weitem nicht das Schlimmste, was die französische Regionalpresse zu bieten habe, meint der Autor.

 "Ich habe Vergleichbares fast überall festgestellt, in Zeitschriften ebenso wie in den nationalen Tageszeitungen. Aber es gibt doch eine Besonderheit in Frankreich: Ich finde die regionale Tagespresse ausserordentlich mittelmäßig. Da gilt meine Kritik allgemein, sie ist wirklich schlecht. Die Zeitungen täuschen ihre Leser. Sie stellen sehr oft die internationale Aktualität in den Vordergrund, das heißt, sie profitieren von der Werbung, die das Fernsehen für ein Ereignis von nationaler oder globaler Bedeutung gemacht hat, und das heben sie auf  ihre Titelseite. Dabei veröffentlichen sie dann Artikel der Agentur AFP, die also nicht von Journalisten der eigenen Redaktion geschrieben worden sind. Bei der Erfüllung ihrer Hauptaufgabe, nämlich über die Aktualität einer großen Stadt oder ihrer Region zu berichten, beschränken sie sich häufig auf Berichte über Cocktailparties oder Versammlungen von Vereinen und Sportclubs. Wenn man die französische Regionalpresse liest, hat man den Eindruck, dass die lokale Demokratie aus Nichtigkeiten besteht.

 Dass es auch anders geht, sieht Tailleur gleich auf der anderen Seite der Pyrenäen. Die regionalen Tageszeitungen in Spanien seien von erheblich besserer Qualität, so die Überzeugung des französischen Journalisten. In seinem Buch vergleicht er Le Midi libre aus Montpellier unter anderem mit dem katalanischen Blatt El Punt. Der spanische Leser erwarte von seiner Zeitung, dass sie ihn verteidigt, und dass sie ein wirkliches Bindeglied im demokratischen Netz ist. Die Gehälter im Rathaus einer Stadt mit 20.000 Einwohnern sind übermäßig angestiegen? El Punt veröffentlicht das noch vor jeglicher Finanzkontrolle und die Gehälter fallen wieder auf ein normales Niveau. Als an einem Oktobermorgen 1998 bei einem Schiffbruch in einem See rund 20 französische Rentner ertrinken, schickt das spanische Blatt zwanzig Journalisten vor Ort und veröffentlicht wenige Stunden nach dem Unglück eine Sonderausgabe. Damit macht die Zeitung zwar keinen Gewinn, aber sie demonstriert ihre Präsenz. Zum Vergleich: Als ein Jahr später bei Überschwemmungen im Westen der Region Languedoc-Roussillon rund 30 Menschen ums Leben kommen, bringt Le Midi libre erst zwei Tage später eine Sonderausgabe heraus.

 Tailleur sieht vor allem zwei Stärken der regionalen Tageszeitungen in Spanien: "Zunächst leisten sie bessere Arbeit auf lokaler Ebene. Die Aktualität des Lokalen beschränkt sich bei ihnen nicht auf Cocktails oder auf Papier über kulturelle Ausstellungen. Man spürt das demokratische Leben, sie spiegeln die Vibrationen dieses örtlichen demokratischen Lebens wider. Und ausserdem finde ich, dass sie auch von der Form her besser gemacht sind. Die Fotos sind allgemein besserer Qualität. Bei Fotos in der französischen Regionalpresse hat man den Eindruck, es sind Bilder aus dem Familienalbum, aufgenommen von zehnjährigen Kindern. In Spanien spürt man, das auch an der Form der Zeitungen gearbeitet wird. 

Warum die Regionalzeitungen in Frankreich so schlecht sind, darauf gibt es nach Einschätzung von Tailleur mehrere Antworten. "Frankreich ist ein besonders zentralisiertes Land. Man hat den Eindruck, alle Kompetenz und Intelligenz flieht aus der Provinz nach Paris. Aber das erklärt nicht alles. Es gibt auch ein Problem mit dem Korporatismus, viele Redaktionen in der Provinz stellen sich nicht selbst in Frage. Und es fehlt an Reflexion über die Qualität der Kommunikation mit den Bürgern. Das ist eine Definition, die ich für die geschriebene Presse geben würde: Sie ist ein Mittel der Kommunikation für die Staatsbürger.

 

Tailleur setzt einen Schwerpunkt seines Buches bei der Kritik der Regionalpresse. Aber auch nationale Tageszeitungen und Magazine schneiden nicht gerade glänzend bei ihm ab. So lässt Tailleur noch einmal die Berichterstattung von Le Monde über den Skandal um Aids-verseuchte Blutkonserven Revue passieren, die auch von anderen Medienkritikern schon untersucht wurde. Zur Erinnerung: Hunderte von Menschen sind in Frankreich an Aids erkrankt und gestorben, weil sie 1985 über Blutplasma angesteckt wurden, von dem einige verantwortliche Ärzte wussten, dass es HIV-kontaminiert war. Der Skandal in seiner ganzen Dimension kam nur sehr langsam ans Licht der Öffentlichkeit. Anfang 1991 konnte die Journalistin Anne-Marie Casteret, die in der Affäre nicht locker ließ, in einem Artikel für L'événement du jeudi mit einer Aktennotiz nachweisen, dass der zuständige Direktor des nationalen Zentrums für Bluttransfusionen, Michel Garetta, gewusst hatte, dass die von ihm zur Verteilung freigegebenen Blutkonserven HIV-verseucht waren. Der Arzt musste zurücktreten und wurde im Oktober 1992 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. 

Tailleur zeichnet nach, wie die beiden Journalisten, die für Le Monde über diesen Fall berichteten, Garettas persönliche Verantwortung so lange möglich aus dem Skandal herauszuhalten versuchten. Erst nach der gerichtlichen Verurteilung des Arztes schwenkte die Berichterstattung des Blattes um. Als die Chefredaktion von Le Monde anschließend erfuhr, dass einer der beiden Journalisten 1988 für eine von dem verurteilten Arzt geleitete Gesellschaft gearbeitet hatte und von ihr bezahlt worden war, ordnete die Zeitung selbst eine Untersuchung der eigenen Berichterstattung an. Der Chefredakteur von Le Monde informierte die Leser über diese Untersuchung und ihr Ergebnis. Ihre Berichterstattung sei nicht durch die Nebentätigkeit beeinflusst worden.

 Tailleur räumt ein, dass eine solche Untersuchung und Information der Leser Anerkennung verdient. Aber, was Le Monde getan hat, reicht seiner Meinung nach nicht aus: "Le Monde sagte, eine interne Untersuchung darüber vorgenommen zu haben, um herauszufinden, ob diese Journalisten berufliche Fehler begangen haben. Und Le Monde hat diesen Bericht mit der Feststellung zusammengefasst: Nein, es habe kein Problem gegeben. Das einzige Problem ist, dass dieser Bericht nie veröffentlicht wurde. Ich ziehe eine Parallele zur Washington Post und deren Verhalten einige Jahre früher, als einer ihrer Journalisten einen schweren Fehler begangen hatte. Die Washington Post veröffentlichte mehrere Seiten zu der internen Untersuchung, um ihren Lesern gegenüber Rechenschaft abzulegen."

 

 Auch eine andere große Institution der französischen Presse,  Le Canard enchaîné, bleibt bei Tailleur von Kritik nicht verschont. Das 1915 gegründete satirische Wochenblatt mit einer verkauften Auflage von rund 430.000 Stück hat viele Skandale enthüllt, aber vor allem dank seiner guten Kontakte und Informationsquellen, weniger aufgrund gründlicher Recherchearbeit, so Tailleur. "Wenn der canard nicht den Ruf hätten, eine investigative Zeitung der Opposition und Gegenmacht zu sein, hätte ich ihn gar nicht erwähnt in meinem Buch. Seine satirische Seite ist mir sehr sympathisch und er hat seinen Platz in der französischen Presse. Das Problem ist, dass ich oft sehe, wie die Journalisten des Canard enchaîné im Fernsehen als die Profis des investigativen Journalismus vorgestellt werden. Und wenn man dann manche Artikel des Canard liest, erscheinen sie sehr dünn. Man spürt den Mangel an Recherche, einen Mangel an Ernsthaftigkeit."

 Jean-Pierre Tailleur geht nicht gerade zimperlich mit den eigenen Kollegen um. Er selber hat seine berufliche Karriere im Bankgeschäft begonnen und wechselte dann in den Journalismus. Die journalistische Ausbildung erhielt er in New York. In den vergangenen Jahren schrieb Tailleur für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen,, darunter das französische Industriefachblatt L'Usine Nouvelle, Le Monde diplomatique, La Depeche du Midi und die nationale spanische Tageszeitung El Pais. In seiner Kritik zieht er also immer wieder Vergleiche zu der Presse in den USA und in Spanien. Und wenn er resümieren soll,, wie sich die Qualität der französischen Presse verbessern liesse, wirbt er vor allem für mehr Selbstkritik in der eigenen Zunft.

 "Wenn ich einen einzigen Verbesserungsvorschlag machen sollte, so wäre das Aufforderung an die Journalisten, selber in ihrem Beruf für Ordnung zu sorgen und nicht darauf zu warten, dass die Richter sich um die Bestrafung von Journalisten kümmern, die sich schlecht verhalten. Es hilft auch nichts, darauf zu warten, dass es mehr Geld für besser Reportagen gibt. Ich habe gesehen, dass es bei gleichem Budget Journalisten gibt, die hervorragende Arbeit leisten und andere, die schlechte Arbeit machen. Ich würde meine Kollegen einladen, ihre Kollegen mit kritischerem Blick zu lesen und sie so zu kritisieren, wie sie das bei einem schlechten Film oder bei einem schlechten Restaurant tun. Warum sollte die Presse nicht in ihren eigenen Spalten das Recht auf Kritik haben?"

 

Das Buch Bévues de presse von Jean-Pierre Tailleur ist in Frankreich beim Verlag Editions du Félin erschienen und kostet 19 Euro 80.

Contact: jptaille@terra.es

 

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